Lesespaß


Die Weihnachtsgeschichte 2019

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Liebe Leser,

an dieser Stelle fanden Sie sonst alle meine Weihnachtsgeschichten der letzten Jahre. Immer mehr Leser wünschten sich jedoch, die Geschichten in einem Buch zuhause ins Regal stellen zu können. Aus diesem Grund musste ich die Geschichten leider von meiner Seite nehmen. So wird in jedem Jahr nur noch die aktuelle Weihnachtsgeschichte hier zu lesen sein. Doch werden Sie schon bald ein neues Buch von mir im Handel finden, in dem alle meine Weihnachtsgeschichten und -gedichte stehen werden. Viel Vergnügen beim Lesen, ich bitte jedoch, das Copyright zu beachten.


Ein Weihnachtsrätsel


Copyright by Claus Beese




In dem farblosen Schrank fand er eine weiße Hose in seiner Größe, und er stieg in die Beinkleider und ein weißes Shirt, das er ebenfalls sauber gefaltet dort fand. Dabei fiel sein Blick in einen Spiegel, der über einem Waschtisch an der Wand hing. Er erschrak, denn das Gesicht, das ihm als Spiegelbild entgegenblickte, war ihm fremd, es war nicht seins. Es war glatt rasiert, der sonst so üppige weiße Bart war fort und ein beinahe haarloses Gesicht schaute ihn mit erschrockenen Augen an. Die langen welligen Haare waren kurzgeschnitten, ein moderner Fassonschnitt ließ das Gesicht hervortreten. Nur die rote Nase und die freundlich blitzenden Augen erkannte er noch als die seinen.

„Mann, hast du dich verändert“, brummte er mit tiefer Bassstimme. Wenigstens die erinnerte ihn an etwas, aber an was? Wer war er, und wo war er? Was war geschehen, und wie war er hierhergekommen?
Leise öffnete sich in seinem Rücken die Zimmertür, und er vernahm leises Wispern. „Ist er schon wach?“; „Ich kenne ihn, aber woher nur?“; „Platz für seine Hoheit! Der Kaiser kommt!“ – Der letzte Satz war laut gerufen worden, und die Tür flog durch einen energischen Schubs weit auf. Zwei Männer rangen darum, als jeweils erster hindurchgehen zu können und verkeilten sich dabei fast im Rahmen. Der eine war an seiner Kleidung und seinem Hut als Napoleon Bonaparte leicht zu erkennen, der zweite schien Kaiser Franz Josef zu sein.

Zwei Kaiser an einem Ort sind wohl nur schwer zu ertragen, und es entspann sich ein wüstes Schimpfen auf den jeweils anderen, das in einem kleinen Handgemenge endete. Erst als Frau Holle dazwischenging, gewährte man ihr den freien Zutritt ins Zimmer. Die Hoheiten verbeugten sich vor ihr und traten einen Schritt zurück.
„Jo, Sissi, du schaust aber heut fesch aus!“, flirtete Franz Josef sie an, während Napoleon flötete: „Bonjour, Joséphine, splendeur printanière dans cette maison.“
„Jungs, ihr liegt beide falsch, das ist Frau Holle“, brummte der glattrasierte Alte. Langsam dämmerte es ihm, wer er war und was bisher seine Aufgabe gewesen war. Und es war kurz vor Weihnachten, er musste sich vorbereiten, alles musste am Heiligen Abend perfekt sein. Und nun saß er hier in einem Haus voller Menschen, die offenbar nicht ganz bei sich waren. Eine steile Falte bildete sich auf seiner Stirn. Gab es da etwa einen Zusammenhang? Er wusste es nicht, doch was er wusste war, dass er so schnell wie möglich hier wieder raus musste. Es lag so viel Arbeit vor ihm.

Der Abend kam und in der Anstalt wurde es ruhig. Die meisten gingen hier früh ins Bett, und das war der Zeitpunkt für seinen Plan. Lautlos öffnete er die Tür zum Flur, der leer und verlassen vor ihm lag. Auf leisen Sohlen tastete er sich durch das Halbdunkel bis zum Aufenthaltsraum, in dem er den riesigen Kamin wusste. Unzählige Male hatte er sich durch Schornsteine gezwängt, durch die kaum ein Mensch passen würde, aber er war auch kein gewöhnlicher Mensch, er war der Weihnachtsmann. Er konnte das, was andere nicht konnten. Er stand vor dem gemauerten Kamin und flüsterte: „Auf, Santa!“ – Doch nichts geschah. Er versuchte sich zu konzentrieren, probierte es viele Male, doch der Weihnachtsmann-Zauber gelang nicht. Seufzend krabbelte er in den riesigen gemauerten Kaminschlot und kletterte mühsam Stück für Stück in ihm nach oben, wo er die nächtlichen Sterne blinken sah. Je höher er kam, umso mehr vermisste er seinen roten Mantel, der ihn sonst vor der Kälte schützte. Vielleicht lag es am Fehlen des Kleidungsstückes, dass ihm nicht gelang, was er sonst mühelos vollbrachte. Keuchend kletterte er auf dem schneebedeckten Dach aus dem Kaminschlot und sah sich um. Wie nun weiter?
„Rudolph! Dancer! Dasher und Prancer! Vixen, Comet, Cupid! Donner und Blitz, wo seid ihr. Ich brauche euch hier!“ Verzweifelt drehte er sich in alle Richtungen, um zu sehen, ob irgendwo die Rentiere mit seinem Schlitten heranjagten. Doch es war nichts zu sehen.

Das Klingeln der Hausglocke schrillte durch das ganze Haus, und einer der Pfleger erhob sich um zur Haustür zu gehen. Ein paar Polizisten standen davor und hielten zwischen sich einen alten Mann, der versuchte sich aus ihrem Griff zu winden. Er trug die weiße Anstaltskleidung.
„Ich glaube, der gehört zu euch“, vermutete einer der Beamten und schob den Alten in den Flur. „Wir haben ihn vom Dach fallen sehen, aber Gottseidank ist er in einer hohen Schneewehe gelandet. Ihm ist wohl weiter nichts passiert.“ Der Pfleger dankte den beiden Beamten und schaute auf den alten Mann.
„Ich weiß nicht, aber hatte ich dem Pflegeschüler heute Morgen nicht gesagt, er sollte dich rasieren?“, knurrte er und schob den Alten in ein Badezimmer, um ihm den wallenden weißen Bart abzunehmen, hinter dem man sein Gesicht beinahe nicht sehen konnte. Nur die freundlichen Augen und die rote Nase hinterließen einen positiven Eindruck. Der Alte mochte durcheinander und verwirrt sein, aber er war ein freundlicher Mensch. Der Pfleger griff seufzend zum Rasiermesser ...