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Klabautergeschichten
Ein Buchmanuskript von Claus Beese

Copyright by Claus Beese, Verwendung von Texten, auch auszugsweise, nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Autors
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Leseproben

Überfall am James-River

John lehnte sich an einen der mächtigen Stämme und schaute umher, während die anderen Männer unbekümmert ihrer Arbeit nachgingen und das helle Schlagen der Äxte durch den Wald hallte.
»Was ist los?« fragte ich ihn, stets darauf bedacht, mich nicht vor den Anderen sehen zu lassen. »Du bist so unruhig.«
»Hör nur! Wie leise es ist. Außer den Beilhieben und dem Rufen der Männer ist nichts zu hören. Kein Vogelgezwitscher, kein Tierlaut. Einfach nur Stille!« antwortete er und sicherte nach allen Seiten, bevor er sich aus dem Schatten des Baumstammes löste und auf die kleine Lichtung trat, die in den letzten Tagen hier durch Rodung entstanden war. Ein scharfer Laut durchschnitt die Stille, und mit einem kurzen „Ssssst!“ schwirrte ein Pfeil heran und durchbohrte Johns Brust. Ich sprang zurück zum Baum und ging in das Holz. Hier war ich geschützt und konnte doch genau sehen, was sich draußen abspielte. Eine Horde halbnackter Männer mit roter Haut drang aus dem Wald auf die Lichtung und griff die Waldarbeiter an. Ihre Gesichter waren mit unterschiedlichen Farben bunt bemalt, und auch ihre Brüste und Leiber zierten verschiedenfarbige Muster. Ihr gellendes Geschrei klang durch den Wald und unsere Männer wandten sich zur Flucht. Einige wurden von den Wilden gestellt und mussten sich mit ihren Äxten ihrer Haut wehren. Die anderen rannten in heilloser Panik davon. So unvermittelt, wie sie aufgetaucht waren, verschwanden die Rothäute wieder im Dickicht. Ihr kurzer Angriff hatte John das Leben gekostet, vier weitere Männer waren mehr oder weniger schwer verletzt. Ich war schockiert. Was hatten wir den Wilden getan? Warum betrachteten sie uns als ihre Feinde? Lag es vielleicht daran, dass wir als Eindringlinge in ihre Welt kamen und Dinge taten, die sie nicht verstanden? Wir schlugen die Bäume des Waldes um und bauten Häuser daraus. Die Tiere in weitem Umkreis flohen, wenn unsere Äxte ihr tägliches Tack-Tack-Tack begannen. Und wir sahen sicher merkwürdig genug aus, mit der Kleidung, die man nun mal in zivilisierten Gegenden der Welt so trägt.
Ein paar Tage vergingen, in denen nichts weiter geschah. Dann, nach fast zwei Wochen, fielen die Wilden unvermittelt über die paar Hütten her, die inzwischen auf der Insel entstanden waren. Ich hatte die Nacht auf dem Schiff verbracht und saß jetzt mit dem Kapitän zusammen in seiner Kajüte. Wir besprachen gerade, wer denn nun an Bord John ersetzen sollte, wenn wir wieder zurück nach England segelten, als urplötzlich schrille, eigenartige und markerschütternde Schreie über das Meer gellten. Wir sprangen auf und stürzten aufs Achterdeck. Der Kapitän hatte sein Fernrohr am Auge und starrte zu der kleinen Siedlung hinüber, die Tag für Tag ein wenig mehr gewachsen war.
»Die Wilden greifen wieder an. Sie sind in der Überzahl! Es sind beinahe doppelt so viele wie von uns. Mein Gott! Sie bringen unsere Leute um!«
»Sir! Lasst Segel setzen und das Schiff vor Anker im Wind herumschwoien. Dann gebt ihnen eine Breitseite über ihre Köpfe hinweg!« schlug ich vor und sein erstaunter Blick streifte mich kurz, als er zur Glocke lief und Alarm schlug. Im Nu waren die Männer in den Wanten und die Segel rauschten herab. Der Wind fasste ins Tuch und drückte das Schiff herum, so dass unsere Breitseite jetzt der Insel zugewandt war. Gleichzeitig mit dem Segelsetzen, waren die Kanoniere an ihre Geschütze geeilt, die Klappen in der Reling schlugen auf und die Rohre wurden in Stellung gebracht. Innerhalb kürzester Zeit meldeten die Schützen ihre Mörser fertig und der Kapitän gab den Feuerbefehl. Krachend entluden sich die Rohre und ein mächtiger Donner röhrte über die stille Bucht. Dann schlugen im Wald hinter den Hütten die Kugeln ein. Bäume knickten, Holz splitterte, Erde und Gestein spritzte durch die Luft. Die anderen Schiffe waren unserem Beispiel gefolgt und fünf Breitseiten entfesselten im Unterholz hinter der Siedlung ein wahres Inferno.
Die Indianer, wohl allesamt vom Stamm der hier ansässigen Algonquin, erstarrten in ihren Bewegungen, versuchten, dass alles vernichtende Unbekannte, dass sie hier sahen und hörten, zu begreifen, und konnten es doch nicht einordnen. So etwas hatte es in ihrer Welt bislang nicht gegeben. Donner und Zerstörung! Die Fremden mussten mit den Göttern im Bunde sein. Als sie das begriffen hatten, wandten sie sich um und verschwanden im Dickicht des Waldes, schnell und verwirrt. Wie lange würde der Zustand ihrer Verwirrung anhalten? Wann würden sie wieder Mut genug gefasst haben, einen dritten Angriff zu starten? Wir mussten wachsam sein und durften die Männer, die im Wald das Holz schlagen sollten, nicht mehr ohne bewaffnete Wache gehen lassen. Zwei weitere Todesopfer hatte ihr zweiter Angriff gekostet und zehn Männer waren verletzt worden.
»Wir werden nicht weiterbauen!« ordnete der Gouverneur des Staates an. »Wir werden die Leute an Bord holen und weitersegeln.«
»Ich habe eine Idee!« flüsterte ich meinem Kapitän ins Ohr, denn ich hatte, unsichtbar für alle menschlichen Augen, an der Lagebesprechung teilgenommen. Leise erläuterte ich dem Kapitän meinen Plan. Alle Augen richteten sich auf meinen Kommandeur, als er sich räusperte und vom Stuhl aufstand.