Leseproben
Piraten
Nein, wenn etwas passieren sollte, dann musste es von außen kommen. Eine Macht, die sich meinen Sinnen
entziehen konnte und die ich darum nicht wahrnahm, war die einzige denkbare Lösung.
»Sag dem Kapitän, er soll den Ausguck doppelt besetzen, wenn wir an Dover vorbei sind und in die Westliche
See einlaufen!« gab ich dem Zimmermann mit auf den Weg, als er halbwegs beruhigt wieder nach oben stieg.
Der Sturm trieb uns vor sich her, als wir auf der Höhe von Brest den Kurs wechselten und nun mit achterlichem
Wind die haushohen Wogen abritten. Im Dunst der herabprasselnden Regenschauer, denen schon Hagelkörner
beigemischt waren, zogen irgendwann die weißen Klippen von Dover an Backbord vorbei und die Temperaturen
fielen merklich.
Der Kapitän ordnete nordnordöstlichen Kurs an, der uns hoch in die offene Nordsee bringen würde. Die Segel
wurden gerefft, und wir stampften mit beinahe halbem Wind und hohem Kurs durch die aufgewühlte See. Eine
arge Belastung für Schiff und Mannschaft, aber ich hatte stets gut gearbeitet und vertraute dem Schiff voll
und ganz. Dieses Vertrauen war es auch, dass den Kapitän zu der Kursänderung nach Norden bewogen hatte. Die
südlichere Route galt gemeinhin als die Gefährlichere, denn in den beiden Meeren rund um Dänemark waren
dänische und schwedische Schiffe nicht mehr sicher, seit sich die sogenannten Vitalienbrüder dort etabliert
hatten.
Die rote Felseninsel im Meer, die man auch „Hilligland“ nannte, war ihre Festung und von dort aus machten
sie mit einer ganzen Kaper-Flotte Jagd auf die Handelsschiffe. Als der blutrünstigste von Ihnen galt der
Gödecke Michael, dessen „SEESCHÄUMER“ selten Gefangene machte. Mitsamt ihren Schiffen schickte man die
Mannschaften nach der Plünderung der Segler einfach zu den Fischen. Als nicht weniger gefährlich galt der
Friesenhäuptling Keno tom Brooke, der auch auf der Pirateninsel das Sagen hatte. Von Glück hingegen konnte
man reden, wenn man von Klaus Störtebecker aufgebracht wurde, denn dann hatte man gute Chancen, mit dem
Leben davonzukommen. Störtebecker hatte es sich zur Angewohnheit gemacht, den Mannschaften eine reelle Chance
zu gewähren, indem er sie in den Booten aussetzte. Meistens schafften sie es bis zum Festland, oder wurden
unterwegs von einem anderen Schiff aufgefischt.
Klaus Störtebecker führte einen eigenen, ganz privaten Krieg gegen die Königin von Dänemark, in deren
Diensten er sogar einmal gestanden hatte. Bei einem Besuch am Hofe war der tollkühne Kerl in heller Liebe zu
einer der königlichen Gefolgsdamen entbrannt, was das Missfallen der „schwarzen Margarete“, wie Ihre Majestät
auch volkstümlich wegen ihrer beständig schwarzen Kleidung genannt wurde, erregt hatte. Sie verbot den Umgang
der beiden miteinander, und der verliebte Thor sann darauf, seine Geliebte zu entführen. Margarete schickte
eine ganze Flotte hinter den Verliebten her, der es auch gelang, den Ritter Klaus gefangen zu nehmen und
beide nach Dänemark zurückzubringen. Der Zufall wollte es, dass der Segler, auf dem sich der gefangene
Edelmann befand, von Gödecke Michael aufgebracht und gekapert wurde. So kam auch Klaus Störtebecker zu den
Piraten und jagte seither jedes Schiff, dass es wagte, den Danebrog zu setzen.
Verständlich also, dass unser Kapitän es vorzog, diesen wilden Gesellen nach Möglichkeit weit aus dem Weg zu
gehen. Wer konnte, mied die Gewässer um die Insel mit den roten Steilkliffs. Noch waren wir nicht weit genug
im Norden, um den Kurs auf das Skagerack absetzen zu können, und der Sturm, der zwar im Nachlassen begriffen
war, uns aber noch immer die eine oder andere heftige Orkanböe in die Segel schickte, beutelte uns noch
einigermaßen heftig. Mitten im Wash, einer weiten Bucht unweit des Humber, fegte wieder eine Sturmböe in das
Rigg, und der Segler legte sich weit auf die Seite. Ich hoffte, dass meine zusätzliche Verkeilung die Ladung
halten würde, aber meine Sorge war unbegründet. Das Unheil kam von ganz anderer Seite. Mit einem lauten
Krachen brachen die Steuerketten, mit denen das Ruderblatt bewegt wurde. Führungslos trieben wir in der
rauen See, und Panik griff nach der Mannschaft.
»Ruhe an Bord!« brüllte der Kapitän und feuerte einen Schuss aus seiner Pistole ab. Der mächtige Knall ließ
die Männer erstarren, und der Kapitän gab sofort Anweisung das Hilfsruder zu montieren. Die Männer schleppten
eine mächtige Pinne herbei und steckten sie auf die aus dem Achterdeck hervorschauende Ruderachse. Vier Mann
waren nötig, das Schiff mittels dieser Notsteuerung wieder auf den alten Kurs zu zwingen und dort zu halten.
So konnte es nicht lange gehen, das erkannte auch unser Kapitän und er befahl abzufallen, bis der Segler mit
fast achterlichem Wind auf Ostnordost-Kurs lag. Viel zu früh, denn wenn wir diesen Kurs beibehielten, würden
wir vielleicht das Ruder behalten, aber dafür irgendwo bei Helligoland unser Leben verlieren.
»Schiff backbord voraus!«gellte denn auch bald der Warnruf des Ausgucks aus dem Mastkorb herab, um nur etwas
später auch ein Schiff an Steuerbord zu melden. Während der Segler an Backbord mit mächtig Fahrt auf unseren
Kurs zuhielt, hatte der an Steuerbord aufkommende Segler scheinbar alle Zeit der Welt. Mit wenig Zeug hielt
er auf uns zu, würde uns aber bei dem Tempo nicht erreichen können.
»Zwei Segler achteraus! Kommen auf!« gellte es von oben herab.
Es war jetzt egal, dass der Sturm weiter abgeflaut war. Wir merkten, dass die Schiffe, die uns folgten, sehr
schnell aufkamen. Es waren also keine langsamen Handelsschiffe. Fast gleichzeitig gingen auf ihnen und dem
von Norden auf uns zuschießenden Segler die Totenkopf-Flaggen hoch, und der Kapitän befahl sofortige
Kursänderung nach Südosten. Auf dem Segler, der bislang fast gemächlich dahergesegelt kam, flogen plötzlich
alle Segel hoch und das Schiff ging unter Vollzeug in den Wind. Er segelte so, dass er unseren Kurs genau
dort schneiden würde, wo wir nur etwas später in etwa zwei Meilen Entfernung sein würden. Die Geschützluken
öffneten sich auf allen Schiffen und wir starrten in die dunklen todbringenden Öffnungen.
Zwar hatten auch wir Geschütze an Bord, bis wir sie aber geladen und in Stellung gebracht hätten, wären wir
schon Fischfutter gewesen. So tat unser Kapitän das einzig vernünftige, er ließ die Dänische Flagge einholen
und setzte ein weißes Tuch, das Zeichen der Kapitulation. Dabei ließ er aber den Kurs weiter auf den Segler
zu ändern, der uns von Süden her den Weg abgeschnitten hatte, denn er hatte in dem schnellen Schiff den
„SEEWOLF“ erkannt, den Piratensegler Klaus Störtebeckers. Von Norden flog der „SEESCHÄUMER“ von Gödecke
Michael heran, aber noch bevor er an uns dran war, schlugen sich bereits die Enterhaken vom „SEEWOLF“ in das
Holz der Reling und somit galt unser Schiff als Prise des Klaus Störtbecker. Kein Schuss war gefallen, die
Mannschaft und der Kapitän ergaben sich ohne Händel.
Alsbald ergoss sich eine johlende Piratenmeute über das ganze Deck, und so wie man es gehört hatte, wurde
unsere ganze Mannschaft auf die Boote verteilt und ausgesetzt.
»Da lang geht es nach Dänemark!« grölte der blutrünstige Gödecke und deutete mit dem Schwert in Richtung
Osten. Man merkte ihm an, dass er Kapitän und Mannschaft am Liebsten massakriert hätte und sich nur schweren
Herzens dem Befehl Störtebeckers gebeugt hatte.
»Und grüßt mir die Schwarze Margarete!« sandte auch Störtebecker lauthals noch einen Abschiedsgruß hinterher.
Die Schiffsjungen der beiden Piraten kamen an Bord und brachten ihren Kapitänen je einen mächtigen Humpen
Bier. Das hatte wohl nach jeder Kaperung so zu geschehen, und ich konnte aus meinem Versteck im Mast heraus
das beobachten, was den Piraten Klaus so berühmt gemacht hatte. Er setzte den riesigen Becher an und leerte
ihn in einem Zug bis auf den Grund. Gödecke tat es ihm gleich, schaffte es aber nur, indem er einmal
zwischendurch absetzte. Die „SEEWOLF“-Crew ließ ihren Kapitän hochleben, dann ging man daran, die Waren aus
dem Laderaum an Deck zu schaffen und auf die Piratenschiffe umzuladen. Alsbald war der Laderaum leer, und die
Mannschaften gingen auf ihre Schiffe zurück. Ich blieb allein an Bord des nunmehr menschenleeren
Segelschiffes.
»Was ist?« rief Störtebecker zum „SEESCHÄUMER“ hinüber. »Kannst du ihn nicht brauchen?«
Gödecke Michael stimmte ein brüllendes Gelächter an. »Machst du Witze? Was soll ich mit dem lahmen Kahn? Der
zieht mir keinen toten Hering vom Teller! Löst eure Enterhaken und lasst ihn schwimmen, und dann wird euch
ein alter Seebär mal den Kurs peilen, wie man mit so einer lahmen Heringstonne umgeht!«
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